Manchmal höre ich die Klage, Schwung, Begeisterungsfähigkeit und Freude hätten sich aus dem Staub gemacht. Das Leben plätschere einfach so vor sich hin. Nichts berühre und belebe wirklich. Das Leben sei langweilig. Den anderen Menschen aber, denen würde es nicht so gehen, denen ginge es viel besser, die würden aufregende Dinge erleben.
Was ist hier passiert?
Ich möchte in diesem Zusammenhang ein japanisches Wort erwähnen, das ein Wegweiser für solche Gemütsverfassungen sein könnte. Im Deutschen gibt es meines Erachtens keine adäquate Übersetzung dafür.
Es heißt IKIGAI.
Hinter IKIGAI steht eine jahrhundertealte Tradition und Philosophie, die ich hier nicht ausführlich darlegen kann. Hier in aller Kürze, was mir persönlich wichtig erscheint:
Es gehört zum normalen höflichen Umgangston, das Gegenüber zu fragen: „Was ist dein IKIGAI?“
Das Wort IKIGAI setzt sich zusammen aus den beiden Wörtern
IKI (Sinn) und GAI (Leben). Was wir Deutschen mit Lebenssinn bezeichnen, trifft meines Erachtens nicht die volle Bedeutung dieses Wortes.
IKIGAI hat noch eine andere Qualität, und zwar die der Freude. Man könnte es eher mit folgenden Worten beschreiben:
Das, wofür es sich lohnt zu leben
oder das, was einen morgens mit Freude aus dem Bett treibt.
IKIGAI ohne Freude ist kein IKIGAI.
Wir sind vielleicht geneigt, IKIGAI mit Hobby zu übersetzen.
Das trifft es jedoch auch nicht. Hobbys machen Spaß, jedoch fehlt dabei manchmal der subjektiv erfahrbare Sinn.
Und IKIGAI enthält beides: Leidenschaft, Freude, viel Gefühl und Sinn.
IKIGAI kann zu großem Erfolg führen, muss es aber nicht. Man braucht dafür nicht im Berufsleben erfolgreich zu sein.
IKIGAI kann sich auch auf ganz kleine Dinge beziehen. Man kann sein IKIGAI in einer Tasse Kaffe finden, einem Sonnenstrahl und auch bei routinierten monotonen Handgriffen, wie zum Beispiel die Straße zu fegen oder Tee einzuschenken.
Es kann sein, dass niemand anderes diesen speziellen Wert wahrnimmt.
Wenn dieser Wert kultiviert und ausgebaut wird und langsam wachsen kann, dann kann es sein, dass mit dem IKIGAI auch Früchte geerntet werden können. Es kann sein, muss aber nicht. Erfolg steht nicht an erster Stelle und ist keinesfalls das Ziel.
Der Zustand in dem das IKIGAI ausgeführt wird, entspricht eher einem flow-Zustand, man verfolgt nicht das Ziel, etwas ganz Besonderes zu erzeugen.
Die Freude, im Hier und Jetzt zu sein, ohne nach Vergütung und Erfolg zu fragen ist ein ganz zentrales Element von IKIGAI.
In unserer heutigen Welt ist alles auf Erfolg und Effizienz ausgerichtet. Unser Selbstwertgefühl hängt sogar davon ab. Wir setzen uns unglaublich unter Druck. Immerzu fühlen wir uns gedrängt, uns beweisen zu müssen und Ergebnisse und Erfolge vorzuweisen.
Wir meinen besser, erfolgreicher und schöner sein zu müssen als alle anderen. Soziale Medien, Selfies und Selbstdarstellung können einen immensen Druck erzeugen, der alle Freude und Leichtigkeit vertreibt.
In dieser Welt ist dieses japanische Wort IKIGAI ein schöner Gegenentwurf, wie ich finde.