Selbstwert, Selbstmitgefühl und das Paradox der Veränderung

 

In letzter Zeit trifft man immer häufiger auf das Wort Selbstmitgefühl.

Löst Selbstmitgefühl den Begriff Selbstwert ab?

In der westlichen Psychologie wurde in den letzten Jahrzehnten sehr viel vom Selbstwert gesprochen.

Der Selbstwert entwickelt sich aus dem Wechselspiel von Lebenserfahrungen und ihrer Bewertung durch uns. Das Bild, das wir von uns haben hat viel damit zu tun, wie wir und auch unser Umfeld unsere Erlebnisse und Erfahrungen deuten und bewerten. Aus diesen Bewertungen entwickelt unser Selbstwertgefühl. Mal ganz pauschal und vereinfacht ausgedrückt:

Erfolge und Bestätigungen führen zu einem guten Selbstwert, Misserfolge und Abwertungen zu einem schlechten Selbstwert.

Ist der Selbstwert hoch, dann fühlen wir uns gut, ist er niedrig, dann fühlen wir uns schlecht, ganz einfach ausgedrückt.

In der Psychologie oder der Psychotherapie ging es folglich immer darum, den Selbstwert zu stärken oder gar zu steigern, damit wir uns besser fühlen.

In den letzten Jahren ist durch den Einfluss der buddhistischen Philosophie ein neues Konzept eingeführt worden: das Selbstmitgefühl

Was besagt es aus? Im Grunde bedeutet es nur, freundlich mit sich selbst umzugehen. Es meint, mit sich selbst so umzugehen, wie man mit seinem/r besten FreundIn umgehen würde. Bei diesem Konzept geht es nicht um Optimierung, Vergleichen und Verbesserung oder darum etwas zu erlangen, was man nicht hat, aber unbedingt haben möchte. Es geht dabei auch um das Eingeständnis, dass die Dinge nicht immer so laufen wie wir das möchten. Dass es aber nicht unsere Schuld ist und auch, dass an uns nichts verbessert werden muss.

Nehmen wir als Beispiel das Altern.

Ein alter Mensch mit Selbstmitgefühl könnte sagen:

Nun gut, ich bin alt. Ich muss mit Schmerzen leben, die Welt reagiert auf mich anders und ich verliere immer mehr Menschen, die mir viel bedeutet haben. Dinge, die ich früher machen konnte und die mir Spaß machten, kann ich heute nicht mehr ausüben.

Das tut sehr weh! Diesen Schmerz nehme ich an, weil er jetzt in meinem Leben ist.

Ein anderes Leben habe ich nicht. Es ist mein Leben. Es ist der Lauf des Lebens, dass auf die Blüte das Verwelken folgt. Genaus das ist Leben. Ich sage Ja zu meinem Leben.

Ich bin traurig, dass Vieles vorbei ist, an denen mein Herz hing. Ich nehme die Traurigkeit wahr und gebe ihr Raum.

Weil ich gerade schmerzliche Prozesse erleben muss, will ich ganz besonders liebevoll und fürsorglich mit mir umgehen. Ich passe auf mich auf und fordere nicht zu viel von mir. Wenn andere mit 90 noch allein um die Welt segeln, vergleiche ich mich nicht mit ihnen. Nicht jedem ist gleich viel gegeben. Ich verwöhne mich mit Dingen, die mir möglich sind und genieße diese in vollen Zügen.

Ich gehe geduldig, wohlwollend und gütig mit meinen Schwächen um. Auch wenn niemand mehr da ist, der für mich da ist, ich bin für mich da und das reicht.

Bei Selbstmitgefühl geht es vor allem darum, all die Dinge, die man an sich ablehnt und nicht haben möchte, liebend anzunehmen. Man muss sie darum noch lange nicht gut finden und sich über sie freuen. Es geht darum, allen Gefühlen Raum zu geben, auch den schmerzlichen.

Denn Widerstand gegen schmerzliche Gefühle verstärkt den Schmerz nur. Und wer dem Schmerz aus dem Weg geht verhindert auch die positiven Gefühle.

In der Gestalttherapie wird gerne über das Paradox der Veränderung gesprochen. So paradox es klingen mag:

in dem Moment, in dem wir das annehmen, was uns unerträglich und schmerzhaft ist, verändert sich etwas in uns.

Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn er versucht, etwas zu werden, was er nicht ist.“(Arnold R. Beisser)

Wer einmal dieses Paradox erlebt hat, wird es niemals mehr vergessen und wird ermutigt werden, das Dunkle in seinem Leben zuzulassen.